Der Blick für das große Ganze [2]

葦の髄から天井を覗く
Yoshi no zui kara tenjō o nozoku
Die Zimmerdecke durch ein Schilfrohr betrachten.
Eine engstirnige Sicht der Dinge haben.
Eine eng begrenzte Auffassung haben.
Nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze sehen.
Keinen Blick für das große Ganze haben.

葦の髄から天井を覗く
Yoshi no zui kara tenjō o nozoku
Observing the ceiling through a hollow reed.
To view the world from a narrow perspective.
To have a narrow worldview.
Think outside the box.
You have to see the big(ger) picture.

Beharrlichkeit führt zum Ziel.

雨垂れ石を穿つ
Amadare ishi o ugatsu
Regentropfen höhlen den Stein aus.
Gutta cavat lapidem non vi, sed saepe cadendo.
Der Tropfen höhlt den Stein nicht durch Gewalt, sondern durch häufiges Fallen.
La goccia scava la pietra.
Steter Tropfen höhlt den Stein.
Beharrlichkeit führt zum Ziel.

雨垂れ石を穿つ
Amadare ishi o ugatsu
Constant dropping wears away a stone.
Gutta cavat lapidem non vi, sed saepe cadendo.
The drop of water hollows the rock not by force, but by often falling.
With ordinary talent and extraordinary perseverance, all things are attainable.
Little strokes fell big oaks.
Perseverance will bring success.

Anmerkung
Zu dem japanischen Sprichwort Amadare ishi o ugatsu 「雨垂れ石を穿つ」 gibt es eine Reihe von sinnverwandten Sprichwörtern. Semantisch am nächsten stehen ihm Suiteki ishi o ugatsu 「水滴石を穿つ」 und Tenteki ishi o ugatsu 「点滴石を穿つ」. Als Herkunft des Sprichwortes gilt das chinesische Geschichtswerk Hàn Shū 《汉书》 / 《漢書》, japanisch Kanjo 『漢書』. Es wurde in der Späten Han-Dynastie (auch Östliche Han-Dynastie, 25 bis 220 n.u.Z.) herausgegeben und ist die wichtigste Quelle zur Frühen Han-Dynastie (auch Westliche Han-Dynastie, 206 v.u.Z. bis 8 n.u.Z.) sowie zur Herrschaft des chinesischen Kaisers Wáng Mǎng, dessen Regierungszeit von 9 bis 23 n.u.Z. als Interregnum im Bürgerkrieg endete und in die Späte Han-Dynastie mündete. Das ältere klassische Sprichwort lautet shuǐdī shíchuān 水滴​石穿, das jüngere dīshuǐ chuānshí 滴水​穿石. Beide existieren bislang in der chinesischen Gegenwartssprache fort.

Der Blick für das große Ganze [1]

針の穴から天を覗く
Hari no ana kara ten o nozoku
Durch ein Nadelöhr den Himmel betrachten.
Eine engstirnige Sicht der Dinge haben.
Keinen Blick über den Tellerrand werfen.
Eine begrenzte Auffassung haben.
Nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze sehen.
Keinen Blick für das große Ganze haben.

針の穴から天を覗く
Hari no ana kara ten o nozoku
Observing the sky through the eye of a needle.
To view the world from a narrow perspective.
To have a narrow-minded view of things.
To have a narrow worldview.
Think outside the box.
You have to see the big(ger) picture.

Anmerkung
Diese sprichwörtliche Redensart ist eine Metapher für Engstirnigkeit und steht auf der 3. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels in Kyoto (Kyoto Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird. Es existiert eine Reihe von sinnverwandten Redensarten, wie z.B. Kuda no ana kara ten o nozoku 管の穴から天を覗く [Durch das Loch eines dünnen Rohres den Himmel betrachten] oder Kagi no ana kara ten o nozoku 鍵の穴から天を覗く [Durch ein Schlüsselloch den Himmel betrachten].

Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.

論語読みの論語知らず
Rongo yomi no rongo shirazu
Die Analekten des Konfuzius dem Wortlaut nach gelesen haben, aber seinen sittlichen Gehalt und Geist nicht begreifen können (oder wollen).
Ein Schriftgelehrter, der Theorie nicht anwenden kann (oder will).
Der Theoretiker weiß, wie es geht, aber es geht nicht. Der Praktiker weiß nicht, wie es geht, aber es geht.
Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.

論語読みの論語知らず
Rongo yomi no rongo shirazu
Not understanding the Analects, although the Analects are read.
A scholar of Confucius’ teachings and his conversations, but unable to practically apply Confucian ethics.
Someone who knows a theory, but cannot apply it.
A mere scholar, a mere ass.

Anmerkung
Dieses Sprichwort steht auf der 2. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels von Kyoto (Kyoto Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird. „Rongo“ ist die japanische Bezeichnung für das auf den chinesischen Gelehrten Konfuzius (ca. 551 v.u.Z. bis ca. 479 v.u.Z.) zurückgehende „Lún Yǔ“ 論語 [Kurzzeichen 论语, deutsch „Gespräche des Konfuzius“, „Analekten des Konfuzius“ oder auch „Gesammelte Aussprüche des Konfuzius“], ein Klassiker der konfuzianischen Literatur.

Der Frosch im Brunnen und das weite Meer

井の中の蛙大海を知らず
I no naka no kawazu taikai o shirazu
Der Frosch im Brunnen kennt den Ozean nicht.
Der Frosch im Brunnen weiß nichts vom weiten Meer.
Eine engstirnige Sicht der Dinge haben.
Keinen Blick über den Tellerrand werfen.
Nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze sehen.
Keinen Blick für das große Ganze haben.

井の中の蛙大海を知らず
I no naka no kawazu taikai o shirazu
The frog in the well knows nothing of the great ocean.
He/She that stays in the valley shall never get over the hill.
Being unable to see beyond the end of one’s nose.
To have a narrow worldview.
Think outside the box.
You have to see the big(ger) picture.

Dem Weisen genügt ein Wort.

一を聞いて十を知る
Ichi o kiite jū o shiru
Eins hören und zehn wissen.
Dem Weisen genügt die Andeutung einer Sache, um das ganze Bild zu verstehen.
Verbum sat sapienti. (Terenz)
Dem Weisen genügt ein Wort.

一を聞いて十を知る
Ichi o kiite jū o shiru
A wise man hears one word and understands ten.
A word to the wise is enough.
Verbum sat sapienti. (Terenz)
Half a word is enough for a wise man.

Anmerkung
Dieses Sprichwort steht auf der 1. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels von Osaka (Osaka Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird.

Anfangs ist man kindlich und später nur noch kindisch.

六十の三つ子
Rokujū no mitsugo
Sechzigjährige können wie Dreijährige werden.
Im Alter kann man eigensinnig und arglos werden wie ein Kleinkind.
Das Alter ist wie eine zweite Kindheit.
Anfangs ist man kindlich und später nur noch kindisch.

六十の三つ子
Rokujū no mitsugo
60-year-old elderlies may become childish like 3-year-old children.
In old age one may become stubborn and inncocent like a toddler.
Old men/women are twice children.
Old age is second childhood.

Anmerkung
Dieses Sprichwort steht auf der 2. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels für Osaka (Osaka Iroha Karuta) beziehungsweise Owari (Owari Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird. Da die durchschnittliche Lebenserwartung in der Vormoderne erheblich niedriger war als in der Gegenwart – insbesondere Japanerinnen haben tendenziell seit mehr als drei Jahrzehnten statistisch im Durchschnitt die höchste Lebenserwartung weltweit –, gibt es sinnverwandte sprichwörtliche Redensarten auch über 70-Jährige [Nanajū no mitsugo 「七十の三つ子」] und 80-Jährige [Hachijū no mitsugo 「八十の三つ子」] im Vergleich zu Dreijährigen. Jedoch gehen bei den beiden letztgenannten Sprichwörtern die vormodernen ostasiatischen Zeitvorstellungen nach dem 60-Jahre-Zyklus verloren. Denn nach der chinesischen Himmelsstamm-Erdzweig-Zeitrechnung, die in Japan und in Korea übernommen und adaptiert wurde, wird ein 61-jähriger Mensch gleichsam wiedergeboren. Diese Denkweise spiegelt sich auch in dem sinnverwandten Sprichwort Honkegaeri no mitsugo 「本卦還りの三つ子」 wider. Honkegaeri 本卦帰り・本卦還り bedeutet das vollständige Durchlaufen des 60-Jahres-Zyklus und ist ein Synonym für Kanreki 「還暦」, den 60. Geburtstag.

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. [6]

売り言葉に買い言葉
Urikotoba ni kaikotoba
Auf die Rede des Verkäufers die Rede des Käufers. [i.ü.S.]
Ein (boshaftes) Wort gibt das andere.
Rede und Gegenrede werden immer heftiger.
Gemeinen Worten folgen gehässige Äußerungen.
Wie man sich bettet, so liegt man.
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

売り言葉に買い言葉
Urikotoba ni kaikotoba
One ill word asks another.
One word led to another.
As you make your bed, so you must lie on it.
What goes around, comes around.

Anmerkung
Der Begriff „verkaufen“ [uru 売る] wird in dieser sprichwörtlichen Redensart im Sinne von bewußt und absichtsvoll „einen Streit anfangen“ [kenka o shikakeru 喧嘩を仕掛ける] verwendet. Es handelt sich um ein Gleichnis für eine vergleichsweise ähnlich grobe Antwort auf die rücksichtslosen Worte des Kommunikationspartners. Als realistisches Anwendungsbeispiel im Alltag ist eine Entschuldigung am Morgen nach einem Streit am Vortag zwischen Eheleuten gut vorstellbar, etwa im Sinne von „Gestern hat sich die Sache hochgeschaukelt, ich hab’s nicht so gemeint. Verzeih mir bitte.“:   【用例】  「昨日のは売り言葉に買い言葉というやつで、本心じゃなかったんだ。どうか許しておくれよ。」

Der Narr und der Weise [1]

「愚者は己が賢いと考えるが、
賢者は己が愚かなことを知っている。」
Gusha wa onore ga kashikoi to kangaeru ga,
kenja wa onore ga oroka na koto o shitte iru.
“A fool thinks himself to be wise,
but a wise man knows himself to be a fool.”
[“The fool doth think he is wise,
but the wise man knows himself to be a fool.”]
„Der Narr hält sich für weise,
aber der Weise weiß, daß er ein Narr ist.“

Quelle: William Shakespeare, Wie es euch gefällt [Original: As You Like It], 5. Akt, 1. Szene, Seite 2, Touchstone.

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. [5]

自縄自縛
jijō jibaku
Sich mit dem eigenen Seil fesseln.
In die eigene Falle tappen.
Verlust der Freiheit durch eigene Schuld.
Sich durch eigene Worte und Taten bewegungsunfähig machen.
Der Vogelfänger verfängt sich im eigenen Netz.
Wie man sich bettet, so liegt man.
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

自縄自縛
jijō jibaku
To tie yourself up with your own rope.
To truss oneself up with one’s own rope.
To be caught in one’s own trap.
To lose one’s freedom of action as a result of one’s own actions.
The fowler is caught in his own net.
As you make your bed, so you must lie on it.
What goes around, comes around.