Wer zwei Hasen jagt, fängt keinen. [2]

虻蜂取らず
Abu hachi torazu
Weder Bremse noch Wespe fangen.
Wer zweierlei zugleich will, bekommt nichts.
Wer zu viel will, bekommt gar nichts.
Wer zwei Hasen jagt, fängt keinen.

虻蜂取らず
Abu hachi torazu
To catch neither horsefly nor wasp.
Between two stools one falls to the ground.
He that hunts two hares loses both.
If you run after two hares, you will catch neither.

Stille Wasser sind tief. [2]

浅瀬に仇波
Asase ni adanami
Je seichter der Strom, desto rauher die Wellen.
Leere Fässer klingen hohl.
Leere Töpfe klappern am meisten.
Ein leerer Topf am meisten klappert, ein leerer Kopf am meisten plappert.
Stille Wasser sind tief.

浅瀬に仇波
Asase ni adanami
Deep rivers move in silence, shallow brooks are noisy.
Wise man [and women] talk because they have something to say; fools because they have to say something.
The empty vessel makes the greatest sound.
Those who know little talk much.
Still waters run deep.

Anmerkung
Die sprichwörtliche Redensart »Asase ni adanami« dient heutzutage als Gleichnis für oberflächliche und launenhafte Menschen, die auch bei geringfügigen Dingen viel Lärm um nichts machen. Für das Bild der rauhen, tobenden Wellen [»adanami«] gibt es im Japanischen noch heute drei Schreibweisen: 「仇浪」 「徒波」 「徒浪」. Das Gleichnis kommt in Gedicht Nr. 522 der Anfang des 10. Jahrhunderts vollendeten kaiserlichen Anthologie namens »Kokin Wakashū« 『古今和歌集』 [Sammlung alter und moderner japanischer Gedichte, ca. 920 n.u.Z.] vor. Als Autor dieses Waka – ein Begriff, der in Abgrenzung zu chinesischen Formen der Dichtung geprägt wurde – gilt der buddhistische Mönch Sosei [Sosei Hōshi 素性法師], dessen Lebensdaten unsicher sind (ca. 909 n.u.Z. verstorben). Es handelt sich bei diesem Waka um ein 31-silbiges Kurzgedicht [Tanka 短歌] mit dem typischen Versmaß 5-7-5-7-7, das man recht verschieden, mit mehr oder weniger chinesischen Schriftzeichen (Kanji) und je nach Interpretation mit verschiedenen Kanji schreiben kann: »An tiefen Stellen sind die Wellen der Flußströmung lautlos, aber an Untiefen ohrenbetäubend.« Da das Kurzgedicht im 14. von 20 Büchern der »Blumenlese« zum Thema Liebe und Sehnsucht steht, sind hier durchaus noch weitere Möglichkeiten der Interpretation gegeben, wenn man japanischen und chinesischen Experten für Prosodie und Herzensangelegenheiten folgen würde. Im Folgenden das Kurzgedicht in einer moderneren, um Kanji angereicherten, in einer um Hiragana angereicherten Variante mit lateinischer Transkription und in einer amerikanischen Übersetzungsmöglichkeit:

底ひなき
淵やは騒ぐ
山川の
浅き瀬にこそ
仇波は立て

そこひなき
ふちやはさはぐ
山川の
あさきせにこそ
あだ浪はたて

sokoi naki
fuchi ya wa sawagu
yamagawa no
asaki se ni koso
adanami wa tate

Helen Craig McCullough hat das Gedicht in ihrem Buch Kokin Wakashū. The First Imperial Anthology of Japanese Poetry (Stanford, California: Stanford University Press, 1985, S. 159) wie folgt ins Englische übersetzt:

Do waters clamor
inside a bottomless pool?
The shallow rapid
of a brawling mountain stream –
that is where noisy waves rise!

Wo Nichtwissen Seligkeit, ist es Torheit, weise zu sein.

「知らないのが幸福なら、知ることは愚か」(トマス・グレイ、1716~1771)
Shiranai no ga kōfuku nara, shiru koto wa oroka
“Where ignorance is bliss, ’tis folly to be wise.”
„Wo Nichtwissen Seligkeit, ist es Torheit, klug zu sein.“ (Thomas Gray, 1716–1771)

Anmerkung
Das Zitat stammt aus den beiden letzten Zeilen des von Thomas Gray im Jahr 1742 verfaßten Gedichts „Ode on a Distant Prospect of Eton College“ (veröffentlicht 1747).

Wenig ist besser als nichts.

有るは無いに勝る
Aru wa nai ni masaru
Etwas ist besser als nichts.
Man hat, was man hat.
Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.
Wenig ist besser als nichts.

有るは無いに勝る
Aru wa nai ni masaru
Something is better than nothing.
A bird in the hand is worth two in the bush.
A crust is better than no bread.
Half a loaf is better than none.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. [2]

瓜の蔓に茄子はならぬ
Uri no tsuru ni nasubi wa naranu
An einer Melonenranke wächst keine Aubergine.
Aus qualitativ Minderwertigem entsteht nichts qualitativ Hochwertiges.
Adler brüten keine Tauben.
Aus nichts wird nichts.
Aus einem Ackergaul wird kein Rennpferd.
Von schlechtem Korn kommt keine gute Saat.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

瓜の蔓に茄子はならぬ
Uri no tsuru ni nasubi wa naranu
Around a gourd tendril an eggplant will not grow.
We cannot make something good out of something naturally inferior in quality.
Eagles do not breed doves.
Nothing comes from nothing.
Of evil grain, no good seed can come.
You cannot make a silk purse out of a sow’s ear.
The apple doesn’t fall far from the tree.

Anmerkung
Dieses Sprichwort darf nicht lobend gebraucht werden. Eine richtige typische Anwendung lautet wie folgt: 【用例】 「瓜の蔓に茄子はならぬで、私も父と同じように平凡な会社員だ」 „Es heißt ja ‚An einer Melonenranke wächst keine Aubergine.‘, auch ich bin wie mein Vater [nur] ein mittelmäßiger Firmenangestellter.“

Die Wahrheit und die Lüge

「真理を知らないやつはただの馬鹿者だ。
Shinri o shiranai yatsu wa tada no bakamono da.
だが真理を知りながら
Da ga shinri o shirinagara
それを虚偽というものは犯罪人だ」
sore o kyogi to iu mono wa hanzainin da.
“Someone who doesn’t know the truth is just thick-headed.
But someone who does know it and calls it a lie is a crook.”
„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“ (Galileo Galilei, 1564–1642)

Quelle: Bertolt Brecht, Leben des Galilei, 9. Szene, 1943 in Zürich uraufgeführt.
典拠:ベルトルト・ブレヒト 『ガリレオ・ガリレイの生涯』 1943にチューリヒにて初演.

Beharrlichkeit führt zum Ziel.

雨垂れ石を穿つ
Amadare ishi o ugatsu
Regentropfen höhlen den Stein aus.
Gutta cavat lapidem non vi, sed saepe cadendo.
Der Tropfen höhlt den Stein nicht durch Gewalt, sondern durch häufiges Fallen.
La goccia scava la pietra.
Steter Tropfen höhlt den Stein.
Beharrlichkeit führt zum Ziel.

雨垂れ石を穿つ
Amadare ishi o ugatsu
Constant dropping wears away a stone.
Gutta cavat lapidem non vi, sed saepe cadendo.
The drop of water hollows the rock not by force, but by often falling.
With ordinary talent and extraordinary perseverance, all things are attainable.
Little strokes fell big oaks.
Perseverance will bring success.

Anmerkung
Zu dem japanischen Sprichwort Amadare ishi o ugatsu 「雨垂れ石を穿つ」 gibt es eine Reihe von sinnverwandten Sprichwörtern. Semantisch am nächsten stehen ihm Suiteki ishi o ugatsu 「水滴石を穿つ」 und Tenteki ishi o ugatsu 「点滴石を穿つ」. Als Herkunft des Sprichwortes gilt das chinesische Geschichtswerk Hàn Shū 《汉书》 / 《漢書》, japanisch Kanjo 『漢書』. Es wurde in der Späten Han-Dynastie (auch Östliche Han-Dynastie, 25 bis 220 n.u.Z.) herausgegeben und ist die wichtigste Quelle zur Frühen Han-Dynastie (auch Westliche Han-Dynastie, 206 v.u.Z. bis 8 n.u.Z.) sowie zur Herrschaft des chinesischen Kaisers Wáng Mǎng, dessen Regierungszeit von 9 bis 23 n.u.Z. als Interregnum im Bürgerkrieg endete und in die Späte Han-Dynastie mündete. Das ältere klassische Sprichwort lautet shuǐdī shíchuān 水滴​石穿, das jüngere dīshuǐ chuānshí 滴水​穿石. Beide existieren bislang in der chinesischen Gegenwartssprache fort.

Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.

論語読みの論語知らず
Rongo yomi no rongo shirazu
Die Analekten des Konfuzius dem Wortlaut nach gelesen haben, aber seinen sittlichen Gehalt und Geist nicht begreifen können (oder wollen).
Ein Schriftgelehrter, der Theorie nicht anwenden kann (oder will).
Der Theoretiker weiß, wie es geht, aber es geht nicht. Der Praktiker weiß nicht, wie es geht, aber es geht.
Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.

論語読みの論語知らず
Rongo yomi no rongo shirazu
Not understanding the Analects, although the Analects are read.
A scholar of Confucius’ teachings and his conversations, but unable to practically apply Confucian ethics.
Someone who knows a theory, but cannot apply it.
A mere scholar, a mere ass.

Anmerkung
Dieses Sprichwort steht auf der 2. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels von Kyoto (Kyoto Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird. „Rongo“ ist die japanische Bezeichnung für das auf den chinesischen Gelehrten Konfuzius (ca. 551 v.u.Z. bis ca. 479 v.u.Z.) zurückgehende „Lún Yǔ“ 論語 [Kurzzeichen 论语, deutsch „Gespräche des Konfuzius“, „Analekten des Konfuzius“ oder auch „Gesammelte Aussprüche des Konfuzius“], ein Klassiker der konfuzianischen Literatur.

Dem Weisen genügt ein Wort.

一を聞いて十を知る
Ichi o kiite jū o shiru
Eins hören und zehn wissen.
Dem Weisen genügt die Andeutung einer Sache, um das ganze Bild zu verstehen.
Verbum sat sapienti. (Terenz)
Dem Weisen genügt ein Wort.

一を聞いて十を知る
Ichi o kiite jū o shiru
A wise man hears one word and understands ten.
A word to the wise is enough.
Verbum sat sapienti. (Terenz)
Half a word is enough for a wise man.

Anmerkung
Dieses Sprichwort steht auf der 1. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels von Osaka (Osaka Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird.

Anfangs ist man kindlich und später nur noch kindisch.

六十の三つ子
Rokujū no mitsugo
Sechzigjährige können wie Dreijährige werden.
Im Alter kann man eigensinnig und arglos werden wie ein Kleinkind.
Das Alter ist wie eine zweite Kindheit.
Anfangs ist man kindlich und später nur noch kindisch.

六十の三つ子
Rokujū no mitsugo
60-year-old elderlies may become childish like 3-year-old children.
In old age one may become stubborn and inncocent like a toddler.
Old men/women are twice children.
Old age is second childhood.

Anmerkung
Dieses Sprichwort steht auf der 2. von 48 Karten des traditionellen Iroha-Kartenspiels für Osaka (Osaka Iroha Karuta) beziehungsweise Owari (Owari Iroha Karuta), das vorzugsweise um Neujahr gespielt wurde und wird. Da die durchschnittliche Lebenserwartung in der Vormoderne erheblich niedriger war als in der Gegenwart – insbesondere Japanerinnen haben tendenziell seit mehr als drei Jahrzehnten statistisch im Durchschnitt die höchste Lebenserwartung weltweit –, gibt es sinnverwandte sprichwörtliche Redensarten auch über 70-Jährige [Nanajū no mitsugo 「七十の三つ子」] und 80-Jährige [Hachijū no mitsugo 「八十の三つ子」] im Vergleich zu Dreijährigen. Jedoch gehen bei den beiden letztgenannten Sprichwörtern die vormodernen ostasiatischen Zeitvorstellungen nach dem 60-Jahre-Zyklus verloren. Denn nach der chinesischen Himmelsstamm-Erdzweig-Zeitrechnung, die in Japan und in Korea übernommen und adaptiert wurde, wird ein 61-jähriger Mensch gleichsam wiedergeboren. Diese Denkweise spiegelt sich auch in dem sinnverwandten Sprichwort Honkegaeri no mitsugo 「本卦還りの三つ子」 wider. Honkegaeri 本卦帰り・本卦還り bedeutet das vollständige Durchlaufen des 60-Jahres-Zyklus und ist ein Synonym für Kanreki 「還暦」, den 60. Geburtstag.