「本というものは私たちの心の中の凍りついた海を砕く斧でなければならないのだ。」(フランツ・カフカ、1883年~1924年)
Hon to iu mono wa watashitachi no kokoro no naka no kōritsuita umi o kudaku ono de nakereba naranai no da
“A book must be the axe for the frozen sea within us.”
„Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ (Franz Kafka, 1883–1924)
Anmerkung
Es liegt in der Natur des Zitats, daß es für sich allein steht und in der Regel notwendigerweise aus dem Zusammenhang gerissen ist. Den Satz „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ benutzte der 20-jährige Franz Kafka (03.07.1883–03.06.1924) in einem Brief vom Mittwoch, dem 27. Januar 1904 an seinen damals möglicherweise besten, etwa zwei Monate jüngeren Jugendfreund Oskar Pollak (05.09.1883–11.06.1915) – beide waren Mitglieder der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag (informell kurz „Lesehalle“ oder „Halle“, 1848 bis 1939) – im folgenden Kontext: „Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Der für Kunstgeschichte habilitierte Pollak starb mit 31 Jahren am 6. Juni 1915 als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg. Franz Kafka starb mit 40 Jahren an Tuberkulose. Der Brief von Franz Kafka an Oskar Pollak in Prag wird im Folgenden ungekürzt und mit Quellenangabe wiedergegeben.
27. Januar 1904
Lieber Oskar!
Du hast mir einen lieben Brief geschrieben, der entweder bald oder überhaupt nicht beantwortet werden wollte, und jetzt sind vierzehn Tage seitdem vorüber, ohne daß ich Dir geschrieben habe, das wäre an sich unverzeihlich, aber ich hatte Gründe. Fürs erste wollte ich nur gut Überlegtes Dir schreiben, weil mir die Antwort auf diesen Brief wichtiger schien als jeder andere frühere Brief an Dich – (geschah leider nicht); und fürs zweite habe ich Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) [Christian Friedrich Hebbel (18.03.1813–13.12.1863); Monika Ritzer hat im Jahr 2017 eine Neuedition der Tagebücher erstmals ungekürzt und mit allen Korrekturen, Ergänzungen und Marginalien etc. mit Kommentar und Apparat beim Verlag De Gruyter herausgegeben] in einem Zuge gelesen, während ich früher immer nur kleine Stückchen herausgebissen hatte, die mir ganz geschmacklos vorkamen. Dennoch fing ich es im Zusammenhange an, ganz spielerisch anfangs, bis mir aber endlich so zu Mute wurde wie einem Höhlenmenschen, der zuerst im Scherz und in langer Weile einen Block vor den Eingang seiner Höhle wälzt, dann aber, als der Block die Höhle dunkel macht und von der Luft absperrt, dumpf erschrickt und mit merkwürdigem Eifer den Stein wegzuschieben sucht. Der aber ist jetzt zehnmal schwerer geworden und der Mensch muß in Angst alle Kräfte spannen, ehe wieder Licht und Luft kommt. Ich konnte eben keine Feder in die Hand nehmen während dieser Tage, denn wenn man so ein Leben überblickt, das sich ohne Lücke wieder und wieder höher türmt, so hoch, dass man es kaum mit seinen Fernrohren erreicht, da kann das Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Aber es tut gut, wenn das Gewissen breite Wunden bekommt, denn dadurch wird es empfindlicher für jeden Biß. Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.
Aber Du bist ja glücklich, Dein Brief glänzt förmlich, ich glaube, Du warst früher nur infolge des schlechten Umganges unglücklich, es war ganz natürlich, im Schatten kann man sich nicht sonnen. Aber daß ich an Deinem Glück schuld bin, das glaubst Du nicht. Höchstens so: Ein Weiser, dessen Weisheit sich vor ihm selbst versteckte, kam mit einem Narren zusammen und redete ein Weilchen mit ihm, über scheinbar fernliegende Sachen. Als nun das Gespräch zu Ende war und der Narr nach Hause gehen wollte – er wohnte in einem Taubenschlag –, fällt ihm da der andere um den Hals, küßt ihn und schreit: danke, danke, danke. Warum? Die Narrheit des Narren war so groß gewesen, daß sich dem Weisen seine Weisheit zeigte. –
Es ist mir, als hätte ich Dir ein Unrecht getan und müßte Dich um Verzeihung bitten. Aber ich weiß von keinem Unrecht.
Dein Franz
Quelle: Franz Kafka (1975): Briefe. 1902–1924. Ungekürzte Ausgabe (Fischer-Taschenbücher; 1575) Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 27–28.