Das Dorf mit den meisten Hundertjährigen: Ernährung als Faktor für Langlebigkeit in Japan

In Japan kennt jeder das Dorf Ogimi [Ōgimi-son 大宜味村] im nordwestlichen Teil der Hauptinsel der Präfektur Okinawa, weil dort von 3.386 Einwohnern 156 über 90 Jahre alt sind und es als Kommune mit der weltweit höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung gilt. Es heißt, dass man dort als „Oma“ beziehungsweise „Omi“ [O-Bāchan 「お婆ちゃん」]  nicht vor dem vollendeten 90. Lebensjahr angesprochen wird.

In Ogimi spricht man dem dort kultivierten Schlingmelden- oder auch Basellgewächs namens „Tsurumurasaki“ [ツルムラサキ oder 蔓紫; lat. Basella rubra] einen besonders lebensverlängernden Effekt zu [jp. chōju shokuzai 長寿食材]. Dieser Indische Spinat, der nach einem Ortsnamen auch Malabarspinat genannt wird [lat. Basella alba; engl. Indian spinach, Malabar spinach] findet als Kultivar in Südostasien breite Verwendung. Ist der Stamm des Basella alba grün, so ist der des Basella rubra rötlich-violett. Die Blätter sind in beiden Varietäten in der Regel grün. „Tsurumurasaki“ ist eine sich windende, reich verzweigte, krautige Pflanze von hohem Nährwert unter anderem mit viel Vitamin C und Karotin, deren Blätter als Kochgemüse verwendet werden.

Eine weitere als sehr gesund geltende Speise aus Okinawa ist „Gōyā-Chanpurū“ [「ゴーヤーチャンプルー」, auch „Gōya-Chanpurū“ 「ゴーヤチャンプルー」], ein Begriff der Ryūkyū-Sprache, der auf etwas „Verschmischtes“ verweist. Gemeint ist hier ein Pfannengericht aus der bitteren Gōyā-Gurke, Tōfu und Rührei mit Frühstücksfleisch [okinawanisch pōku ポーク = pork, jp. pōku ranchon mīto ポークランチョンミート oder auch sōsēji mīto ソーセージミート, engl. luncheon meat; die erste Sorte Frühstücksfleisch hieß „Spam“ [SPAM], ein Kunstwort aus „Spiced Ham“ (seit 1937) und wurde von dem amerikanischen Unternehmen Hormel Foods Corporation und der US-Armee durch umfangreiche Lebensmittellieferungen unter anderem an Großbritannien und das sowjetische Militär als Verbündete während des Zweiten Weltkriegs in der ganzen Welt bekannt gemacht].

Darüber hinaus essen die Menschen auf Okinawa erheblich weniger Salz als im restlichen Japan. Die Salzaufnahme wird wegen Bluthochdrucks im Alter in Japan als ein nicht zu unterschätzender Faktor ungesunder Ernährung betrachtet, zumal die Lebenserwartung in der Präfektur Aomori auf Nord-Honshū, wo allgemein salzhaltiger gegessen wird, erheblich niedriger als im landesweiten Durchschnitt ist. Im landesweiten Durchschnitt nehmen Japaner 11,4 Gramm Salz und Japanerinnen 9,6 Gramm Salz pro Tag zu sich. Auf Okinawa konsumieren Männer täglich nur 9,3 Gramm Salz und Frauen 7,7 Gramm Salz. Chanpurū ist erwiesenermaßen eine Speise speziell gegen Arterienverkalkung [jp. dōmyaku kōka 動脈硬化] und eine Prophylaxe gegen sogenannte zivilisatorische Krankheiten [jp. seikatsu shūkanbyō no yobō 生活習慣病の予防]. Aber auch getrockneter echter Bonito (lat. Katsuwonus pelamis) und spezielle Zitrusfrüchte (lat. Citrus depressa) gelten als wertvoll für Langlebigkeit und die Existenz von Zentenaren. Darüber hinaus gelten Bestandteile der Erdnuß (jp. rakkasei; lat. Arachis hypogaea) als ernährungswissenschaftlich wertvoll, die für ihre cholesterinsenkende Wirkung in verschiedenen Tōfu-Gerichten [jp. jīmāmi tōfu ジーマーミ豆腐] bekannt sind.

Japan hat weltweit die höchste Lebenserwartung

Das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales [engl. Ministry of Health, Labour and Welfare, MHLW; jp. Kōsei Rōdōshō 厚生労働省, kurz Kōrōshō 厚労省] veröffentlicht alle fünf Jahre eine vollständige Sterbetafel [engl. complete life table, jp. kanzen seimeihyō 完全生命表]. Die Sterbetafel ist ein demografisches Modell zur Errechnung von Sterbewahrscheinlichkeiten in den einzelnen Altersjahren und gibt auch Auskunft über die geschlechtsspezifische durchschnittliche Lebenserwartung. Eine nach Geschlechtern getrennte Längsschnittbetrachtung ermöglicht dem Ministerium eine zusammenfassende genauere Beurteilung der Sterblichkeitsverhältnisse der japanischen Bevölkerung unabhängig von seiner Größe und Altersstruktur.

Die durchschnittliche Lebenserwartung lag demnach im Jahr 2015 für Frauen bei 86,99 Jahren (2014: 86,83 Jahre), für Männer bei 80,75 (2014: 80,50 Jahre). Im Vergleich zur vollständigen Sterbetafel von 2010 war die Lebenserwartung für Frauen um 0,69 Jahre und für Männer um 1,2 Jahre angestiegen. Die errechneten Sterbe- und Überlebenswahrscheinlichkeiten sind bei der alle fünf Jahre erstellten vollständigen Sterbetafel genauer als bei der jährlich erstellten abgekürzten Sterbetafel [engl. abridged life table, jp. kan’i seimeihyō 簡易生命表], weil letztere auf Bevölkerungsschätzungen und erstere auf den tatsächlich registrierten Sterbefällen über ein halbes Jahrzehnt hinweg im Rahmen der fünfjährlich erfolgenden Volkszählung beruht. Somit wurde die auf der Datengrundlage der abgekürzten Sterbetafel im Juli 2016 veröffentlichte durchschnittliche Lebenserwartung für das Jahr 2015 von 87,05 Jahren für Frauen um 0,06 Jahre und von 80,79 Jahren für Männer um 0,04 Jahre leicht nach unten korrigiert. Japaner und Japanerinnen haben trotz dieser statistischen Berichtigung im internationalen Vergleich aktuell die höchste Lebenserwartung. Im japaninternen Geschlechtervergleich leben Frauen mehr als sechs Jahre länger als Männer, was Ernährungswissenschaftler bisweilen etwas monokausal mit der hypokalorischen Ernährungsweise vieler Japanerinnen erklären.

Die durchschnittliche Lebenserwartung in Japan lag in der vormodernen Edo-Zeit (1603–1867) bei rund 30 Jahren. Von der Meiji-Zeit (1868–1912) bis zum 21. Jahrhundert ist sie etwa um ein halbes Jahrhundert auf über 80 Jahre gestiegen. Der wichtigste Grund für diese dramatische Entwicklung wird allgemein darin gesehen, dass das Sterberisiko von Säuglingen, Kleinkindern und Heranwachsenden seit der Industrialisierung signifikant gesenkt werden konnte.

Im Vorjahr des Ersten Weltkrieges (1913) lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 42,06 Jahren für Männer und bei 43,20 Jahren für Frauen. Im Laufe von 100 Jahren stieg sie somit um rund 40 Jahre an. Der verbesserten Hygiene, dem medizinischen Fortschritt in Form von Geburtshilfe und Schutzimpfungen etc. kommt das größte Verdienst für diese Entwicklung zu. Der japanischen Arbeits- und Lebensweise zumindest dürfte die außergewöhnliche Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung allein nicht geschuldet sein. Zudem handelt es sich um einen statistischen Durchschnittswert.

Tokugawa Ieyasu 徳川家康 (1543–1616), der erste „Oberbefehlshaber zur Unterwerfung der Barbaren“ [offizieller Titel, jp. 征夷大将軍 Seii Taishōgun, kurz Shōgun 将軍], mit dessen Amtszeit die Edo-Zeit (1603–1867) begann, und sein Enkel Tokugawa Mitsukuni 徳川光圀 (1628–1701), eventuell bekannter als Mito Kōmon 水戸黄門), erster Fürst [Daimyō 大名] der Domäne Mito, wurden beide in der frühen Edo-Zeit 73 Jahre alt und waren nicht die einzigen. Die alte Volksweisheit „Lieber reich und gesund als arm und krank.“ trifft den Kern der Ursachen hier wohl nur tendenziell. Als Hauptgründe für eine durchschnittliche Lebenserwartung von nur rund 30 Jahren in der Edo-Zeit gelten neben der bereits erwähnten Säuglings- und Kindersterblichkeit Hungerkrisen, Infektionskrankheiten und Naturkatastrophen.

Japan altert weltweit am schnellsten

Der Bevölkerungsanteil von Menschen über 65 Jahren verdreifachte sich in Japan innerhalb von 25 Jahren von 7% im Jahr 1970 auf 14% im Jahr 1994 und auf 21% im Jahr 2005. Die demographische Entwicklung zu einer „hyperalten Gesellschaft“ [jp. chōkōreika shakai 超高齢化社会] beschleunigte sich seit 1990 signifikant. Zwischen 1990 und 2015 nahm die Zahl der Menschen in Japan in allen Kohorten von 0–59 Jahren in absoluten Zahlen sukzessive ab und in den Kohorten von 60–64 an aufwärts sprunghaft zu. Der Anteil der 0–14-Jährigen sank zwischen 1990 und 2015 von 18,2 auf 12,7% und der Anteil der 15–64-Jährigen im gleichen Zeitraum von 69,7 auf 60,6%. Gleichzeitig verdreifachte sich der Anteil der Über-65-Jährigen von 12,1 auf 26,7%.

Als demographisches Phänomen können der aktuelle Jugenabhängigkeitsquotient [Personen von 0–14 Jahren im Verhältnis zu Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren mal 100: 26,2 im Jahr 1990, 20,9 im Jahr 2015], die Altersabhängigenquote [Personen ab 65 Jahren im Verhältnis zu Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren mal 100: 17,3 im Jahr 1990, 44,0 im Jahr 2015], der Altersindex [Personen ab 65 Jahren im Verhältnis zu Personen im Alter zwischen 0–14 Jahren mal 100: 66,2 im Jahr 1990, 201,7 im Jahr 2015] und der Gesamtbelastungsquotient [Personen von 0–14 Jahren und Personen ab 65 Jahren im Verhältnis zu Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren mal 100: 43,5 im Jahr 1990, 64,9 im Jahr 2015] kurz als Unterjüngung und Überalterung bezeichnet werden. Dieser demographische Prozess erscheint mittel- bis langfristig als sehr robust und nachhaltig.

Japans hyperalte Bevölkerung

Japan entwickelt sich technisch-wissenschaftlich-industriell gerade von der dritten zur vierten industriellen Revolution weiter, befindet sich demographisch oder bevölkerungsgeschichtlich in einem Transformationsprozeß vom zweiten zum dritten demographischen Übergang und besitzt aktuell die älteste Bevölkerung(sstruktur) der Welt. Wenn man sich die Dynamik anschaut, mit der sich Japan in wenigen Jahrzehnten von einer „alternden Gesellschaft“ (jp. kōreika shakai 高齢化社会, 7% Bevölkerungsanteil über 64 Jahren) im Jahr 1970 über eine „alte Gesellschaft“ (jp. kōrei shakai 高齢社会, 14% Bevölkerungsanteil über 64 Jahren) im Jahr 1994 zu einer „hyperalten Gesellschaft“ (21% Bevölkerungsanteil über 64 Jahren) im Jahr 2005 entwickelt hat, kommt man zu dem Schluß, daß es weltweit kein anderes historisches Beispiel dafür gibt; Japan besitzt Anfang 2017 im weltweiten Vergleich mit über 27% den höchsten Bevölkerungsanteil über 64 Jahren und mit unter 13% den niedrigsten Bevölkerungsanteil unter 15 Jahren, hinsichtlich Überalterung und Unterjüngung mithin die älteste Bevölkerung der Erde. Als der Anteil der Menschen über 64 Jahre 21% überstieg, prägte man in Japan dafür den Begriff der „hyperalten Gesellschaft“ (jp. chōkōreika shakai 超高齢化社会).